„Die Wirtschaft im Euroraum braucht eine Atempause“

Allianz Global Investors "Die Woche voraus" vom 19.04.2024

Für die Wirtschaft in der Eurozone waren die letzten zwei Jahre besonders strapaziös. Denn die Euro-Länder sind dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sowie den darauffolgenden Energieversorgungsengpässen stärker ausgesetzt als die meisten anderen Wirtschaftsräume der Welt. Zudem mussten die hiesigen Währungshüter ihren geldpolitischen Kurs in rekordverdächtigem Tempo von außerordentlich expansiv, inklusive negativer Zinssätze, auf restriktiv umstellen. Die politischen Konsequenzen dieser jahrelangen Verwerfungen spiegeln sich in einer wachsenden Abneigung gegen Bemühungen, klimaschädliche Emissionen zu reduzieren. Diese Maßnahmen haben private Haushalte belastet und zu einer gestiegenen Bereitschaft der Wähler geführt, Parteien ihre Stimme zu geben, die bisher als Randerscheinungen jenseits des Mainstreams galten.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Wirtschaft im Euroraum braucht eine Atempause.

Erfreulich ist, dass eine Trendwende bei den Konjunkturaussichten im Euroraum erkennbar zu sein scheint. In den letzten Monaten zeichnete sich in den Unternehmensumfragen eine nachhaltige Bodenbildung ab, die wohl auch darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sich die Inflation allmählich dem Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) wieder annähert. Es hat sich ein Gleichlauf zwischen Hinweisen auf eine Erholung der Einkaufsmanagerindizes für das verarbeitende Gewerbe im Euroraum und der von Eurostat ermittelten Dynamik bei der Industrieproduktion gebildet.

Euro-Daten deuten zunehmend auf einen zyklischen Tiefpunkt hin

Dabei fallen zwei Entwicklungen besonders auf. Einerseits ist die wirtschaftliche Erholung dieses Mal nicht vom traditionellen Zugpferd der europäischen Konjunktur - dem deutschfranzösischen Motor - getragen worden. Vielmehr sind es die kleineren Euro-Volkswirtschaften, angeführt von Italien und Spanien, die schneller Tritt gefasst und einen höheren Beitrag zum Wirtschaftswachstum geleistet haben. Andererseits haben im Februar einige der vom Ukraine-Krieg am stärksten betroffenen Branchen, z. B. die energieintensive Industrie in Deutschland, erste Anzeichen einer Erholung verzeichnet. Beide Faktoren wirken sich positiv auf „schwächere Bonitäten“ im Euroraum aus und verringern damit die Abwärtsrisiken.

Es bleibt nur noch die Frage, wie stark die Aufwärtsbewegung ausfallen dürfte. Hier bestehen nach wie vor eindeutige Risiken.

Aus der im April erschienenen Umfrage der EZB zur Kreditvergabe der Banken ist zwar eine anfängliche Verbesserung der Kreditnachfrage privater Haushalte zu erkennen. Doch die Nachfrage nach Unternehmenskrediten wird von den Banken als genauso niedrig eingeschätzt wie im Zuge der Eurokrise 2011-2012. Zum Teil könnte dies darauf zurückzuführen sein, dass sich die Unternehmen dank einer soliden Gewinnlage aus eigener Kraft finanzieren können. Trotzdem lässt sich diese schwache Kreditentwicklung nicht als normal bezeichnen. Ebenso gilt als wesentlicher Bestandteil der Wachstumsprognosen für den Euroraum ein Anstieg der realen Einkommen privater Haushalte. Denn die letzten Spuren des Inflationsschocks klingen ab. Vor diesem Hintergrund wäre ein erneuter Aufwärtsdruck auf Energiepreise infolge einer Unterbrechung der Lieferketten oder gar eines länger anhaltenden Konflikts im Nahen Osten ausgesprochen ungünstig.

Solange die Euro-Leitzinsen auf dem derzeitigen Niveau bleiben, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach der Aufschwung in der Eurozone bestenfalls verhalten sein. Eine Lockerung der Geldpolitik zur Stützung der Konjunkturerholung wird voraussichtlich im Juni beginnen. Allerdings hängt der Umfang möglicher geldpolitischer Impulse von Faktoren ab, die nicht ausschließlich im Kompetenzbereich des EZB-Rats liegen.

Die Woche voraus

In der kommenden Woche steht die Veröffentlichung der vorläufigen Einkaufsmanagerindizes der führenden Volkswirtschaften für den Monat April im Mittelpunkt. In nahezu allen Ländern ist eine spürbare Belebung zu beobachten, da das verarbeitende Gewerbe Fortschritte bei der Abwendung einer drohenden Rezession erzielt. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Erholung zumindest in moderatem Tempo fortsetzen dürfte. Im Dienstleistungssektor sind die Entwicklungen uneinheitlicher verlaufen, sollten aber immerhin mit einem anhaltenden Wachstum einhergehen. In Anbetracht der erhöhten Empfindlichkeit der Märkte gegenüber Störfaktoren, die die ersehnte geldpolitische Lockerung gefährden könnten, werden die Inflationsdaten genauso von Bedeutung sein wie die Gesamtindizes.

In den USA wird die erste Schätzung zum BIP (Bruttoinlandsprodukt) im ersten Quartal erscheinen. Obwohl eine Verlangsamung gegenüber dem kräftigen Anstieg im Q4 2023 über weite Strecken des Quartals als wahrscheinlich galt, lässt die Dynamik der Verbraucherausgaben zum Quartalsende ein annualisiertes Wachstum von annähernd 3,0% wieder als plausibel erscheinen. Außerdem werden in den USA die Auftragseingänge für langlebige Wirtschaftsgüter, die Verkaufszahlen neuer Eigenheime und eine Reihe regionaler Unternehmensumfragen bekannt gegeben.

In der Eurozone steht die Veröffentlichung der Geldmengenaggregate für März durch die EZB an. In jüngster Zeit hat sich hier eine Bodenbildung abgezeichnet, was im Einklang mit anderen sich aufhellenden Makrodaten für den Euroraum steht. Dennoch gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich der Geldmengenüberhang, der dem Inflationsschub vorausging, wieder zurückbildet. In Deutschland dürfte die ifo Geschäftsklimaindex eine Erholung vom rezessionsähnlichen Umfeld im letzten Jahr bekräftigen. Eine schnellere Wiederbelebung der Konjunktur wäre deshalb umso begrüßenswerter, da Deutschland bisher weit hinter den übrigen Euro-Ländern zurückgeblieben ist. Wir würden es auch begrüßen, wenn Sie von den bevorstehenden Wirtschaftsindikatoren ebenfalls dem Euroraum eine Atempause gönnen würden.

Sean Shepley
Senior Economist

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