Ethenea Marktkommentar vom 01.09.2025
Manche Kräfte entfalten ihre Wirkung nicht im Lärm, sondern in der Stille. Künstliche Intelligenz gehört dazu. Lange Zeit war sie als akademische Hypothese, als Gedankenspiel in den Hinterzimmern von Start-Ups und Thinktanks verschrien. Die Beweise häufen sich, dass KI nicht nur Arbeitsabläufe beschleunigt, sondern ganze Preisstrukturen beeinflusst. Ein sich selbst verstärkende Kreislauf von Effizienz und Kostensenkung wird zum Perpetuum mobile der Deflation.
Makro: Wenn Zahlen eine neue Sprache sprechen
Die Zahlen des U.S. Bureau of Labor Statistics im zweiten Quartal 2025 ließen aufhorchen: +2,4 % Arbeitsproduktivität im Nicht-Landwirtschaftssektor, bei nur +1,3 % mehr Arbeitsstunden und einem moderaten Zuwachs in den Lohnstückkosten (+1,6 %).
Was wie eine Fußnote klingt, entpuppt sich in Wahrheit als Frühindikator: In den Produktionsprozessen verschiebt sich Grundlegendes. Unternehmen erzielen mehr Output mit weniger Input. Die Ursache: KI-gestützte Automatisierung, intelligente Datenanalysen, vorausschauende Prozesse.
BNP Paribas Research hat diesen Zusammenhang quantifiziert: Ein Prozentpunkt mehr Produktivität kann die Inflationsrate um bis zu einem Prozentpunkt jährlich senken. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) bestätigt diesen Mechanismus: Höhere Gesamtfaktorproduktivität steigert die Produktionskapazität - das Angebot wächst schneller als die Nachfrage, die Preise steigen langsamer oder sinken sogar.
Mehr Effizienz → niedrigere Kosten → Investitionsanreize → noch mehr Effizienz.
Ein strukturierter deflationärer Trend entsteht – ein „Perpetuum mobile der Preisberuhigung“, gespeist durch massive Infrastrukturinvestitionen. Allein im Jahr 2024 sollen laut Gartner weltweit rund 675 Milliarden US-Dollar in Public-Cloud-Technologie fließen – ein Plus von über 20 %. Besonders stark wächst der Bereich „Infrastructure as a Service“ (+25,6 %), angetrieben durch generative KI-Workloads.
Auf der Hardware-Seite ist die Dynamik ebenfalls spürbar: Allein der Branchenprimus NVIDIA meldete im zweiten Quartal 2025 einen Umsatz von 26,3 Milliarden Dollar nur im Data-Center-Bereich (+154 % YoY). Diese Zahlen sind ein direkter Indikator dafür, wie stark Unternehmen in KI-fähige Infrastruktur investieren.
Lieferketten auf Effizienzdiät
Wer glaubt, KI sei nur ein Werkzeug für Software-Entwickler, verkennt das Potenzial für die Realwirtschaft. In den Lieferketten wirkt KI wie ein persönlicher Trainer für globale Warenströme. Laut McKinsey berichten 61 % der produzierenden Unternehmen nach KI-Implementierung von geringeren Kosten, 53 % sogar von gestiegenen Einnahmen. Besonders eindrucksvoll: 41 % der Firmen erzielten Kostensenkungen zwischen 10 und 19 %.
Warum? Weil Prognosemodelle genauer werden, Stillstände reduziert, Ressourcen effizienter eingesetzt werden. Früher war die Lieferkette eine holprige Straße – heute ist sie eine KI-gesteuerte Autobahn.
Arbeitsmarkt: Weniger Schweiß pro Produkt
Was macht KI mit Jobs und Löhnen? Eine Analyse des Tony Blair Institute rechnet vor, dass eine vollständige KI-Adoption in Großbritannien fast ein Viertel der Arbeitszeit im Privatsektor freisetzen könnte - das entspricht der jährlichen Leistung von 6 Millionen Vollzeitkräften.
Die Folgen:
- Die Sensitivität von Preis-Inflation zur Arbeitslosigkeit sinkt um 17 %.
- Die Sensitivität von Lohn-Inflation zur Arbeitslosigkeit sinkt um 9 %.
Der MIT-Ökonom Daron Acemoglu kommt zu einem ähnlichen Schluss: KI senkt die Arbeitskosten automatisierbarer Tätigkeiten um 27 % – was gesamtwirtschaftlich zu Einsparungen von bis zu 15 % führen kann. Anders gesagt: Der Output steigt, ohne dass die Löhne proportional mitwachsen – ein klassischer disinflationärer Effekt.
Unternehmen als Vorreiter
Die Theorie der deflationären Kraft von KI wird durch handfeste Erfolge führender Unternehmen deutlich. Im Bereich der Container-Logistik konnte Maersk mithilfe von KI die Standzeiten seiner Schiffe um 30 % reduzieren, was jährliche Einsparungen von über 300 Millionen US-Dollar ermöglicht.
Amazon setzt über 520.000 KI-gesteuerte Roboter in den Logistikzentren ein, die Auftragsabwicklungskosten sinken um 20 %, die Effizienz steigt um 40 %.
Walmart spart mit KI-gesteuerter Bestandsverwaltung rund 1,5 Milliarden US-Dollar jährlich – bei einer Verfügbarkeitsrate von 99,2 %.
Diese Effekte drücken nicht nur die Kosten, sondern senken letztendlich die Preisen für Verbraucher – leise, aber nachhaltig.
Anlageimplikationen: Segeln mit doppeltem Kompass
Die Märkte preisen aktuell moderate bis mittelfristige Inflationsraten ein (5y5y-Breakevens 2,3–2,5 %). Doch die strukturellen disinflationären Effekte der KI sind in vielen Modellen noch unterrepräsentiert. Wir erwarten angesichts der bislang nicht berücksichtigten deflationären Effekte der Künstlichen Intelligenz durchaus geringere Preissteigerungen. Zumindest aus dieser Richtung gibt es dementsprechend weniger Gründe für ein höheres Zinsniveau.
Das spricht für eine qualitätsorientierte Duration-Strategie, die hauptsächlich in mittleren bis längere Laufzeiten für eine höhere Rendite investiert. Zusätzlich können im begrenzten Umfang kürzere Laufzeiten eine gewisse Flexibilität bewahren.
Fazit: KI als Wirtschaftspilot
Künstliche Intelligenz ist kein Allheilmittel - aber ein mächtiger Hebel. Sie beschleunigt nicht nur Abläufe, sie verändert die Architektur der Wirtschaft: effizienter, vorausschauender, produktiver.
Produktivitätsgewinne von 0,1 bis 1,5 Prozentpunkten pro Jahr, zweistellige Kostensenkungen in Lieferketten, milliardenschwere Infrastrukturinvestitionen und messbare Lohn- und Preisdämpfungseffekte werden einen disinflationären Weg bereiten.
Der Weg wird nicht linear verlaufen. Investitionsspitzen, Integrationskosten und Qualifikationslücken können temporäre Preisschübe erzeugen. Aber langfristig könnte KI tatsächlich das tun, was bisher als physikalische Unmöglichkeit galt: Sie könnte das Perpetuum mobile schaffen, das den Inflationsmotor in einen Zustand der ewigen Dämpfung versetzt.