Macroscope: Was folgt auf die Dissonanzen am Markt?

LFDE Marktkommentar vom 03.05.2023

Paris, 3. Mai 2023 – Seit einigen Monaten sind die Märkte mit unerfreulichen Aussichten in Form von Zinsanhebungen, einer historischen Inflationswelle, Bankeninsolvenzen usw. konfrontiert. Dennoch halten sich Aktien seit Jahresbeginn im positiven Bereich oder liebäugeln wie der Euro Stoxx 50 sogar mit Allzeithochs. Schaut man allein auf die Wertentwicklungen, könnte man meinen, dass alles in Ordnung ist.

Diese Art der offensichtlichen Inkohärenz zwischen Verhalten und Ansichten oder zwischen den Ansichten ein und derselben Person bezeichnet man gelegentlich als „kognitive Dissonanz“. In der Musik kommt das in Disharmonien zum Ausdruck. Doch aus derartigen Missklängen können – so sie geschickt zusammengestellt sind – sehr geschätzte Werke entstehen. Das Quartett Nr. 19 von Mozart, auch Dissonanzen-Quartett genannt, hat in dieser Hinsicht Symbolcharakter. Hat der Markt Chancen, den Weg von Mozart einzuschlagen und seine Dissonanzen in Singsang zu verwandeln?

Mega-Caps mit deutlicher Outperformance

Schauen wir uns zwei aktuelle Beispiele von Dissonanzen an. Die erste bildet der beträchtliche Unterschied zwischen der Performance der Technologiegiganten und der des übrigen Marktes. Am 27. April verzeichnete der Mega-Cap-Tech-Index ein Plus von über 35 %, während es der Dow Jones gerade so in den positiven Bereich schaffte. In Europa sieht es ähnlich aus. Hier boomen die großen Wachstumsaktien, zu denen auch Luxusunternehmen gehören, während alle anderen vernachlässigt werden.

Lässt sich diese Dissonanz auflösen? Hierzu müssen wir die beiden Fälle getrennt betrachten. Der Vorsprung der Technologieriesen gegenüber den meisten anderen Aktien folgt einer grundlegenden wirtschaftlichen Logik, nämlich dass der Sieger bei der Digitalisierung der Welt im Vorteil ist. Die Größten machen das Rennen, weil sie dank ihres Wachstums Unsummen investieren können, um ihre Vorherrschaft zu festigen – sei es durch eigene Innovationen oder durch geschickte Übernahmen. Die erfolgreiche Partnerschaft von Microsoft mit OpenAI, dem Entwickler von ChatGPT, ist ein Beispiel hierfür. Die Titanen könnten dauerhaft die erste Geige spielen – um den Preis einer Dissonanz mit dem übrigen Markt, verstärkt durch heftige Korrekturen wie 2022, als der Mega-Cap-Tech-Index fast 50 % verlor, der Dow Jones dagegen nur 7 %. Auch in den schönsten Melodien wird nicht immer der Ton getroffen.

Aufholjagd der Small Caps, sobald ursprünglicher Trend wieder einsetzt

In der Vergangenheit konnten Large Caps einen derartigen Vorsprung gegenüber Small Caps jedoch nicht halten. Im Gegenteil – langfristig haben Small Caps die Nase vorn. Über die vergangenen 24 Jahre1 hat der weltweite Index der Small Caps beispielsweise 8 % pro Jahr zugelegt, während es bei den Large Caps weniger als 5 % waren. Doch unter turbulenten Marktbedingungen – wie zurzeit aufgrund der geldpolitischen Straffung – herrscht mitunter mehr Unsicherheit. Betrachtet man die Geschichte als guten, wenn auch nicht unfehlbaren Ratgeber, dann ist anzunehmen, dass der ursprüngliche Trend wieder einsetzt, sobald Aussichten auf eine Normalisierung vonseiten der Zentralbanken bestehen. Die Dissonanz könnte sich dann durch die vorübergehende Umkehrung des Ungleichgewichts auflösen: das massive Aufholen der Small Caps.

Den zweiten Fall einer markanten Dissonanz bilden die Erwartungen im Hinblick auf die amerikanischen Leitzinsen. Der Markt sieht sie gemessen an den Future-Kontrakten ab Herbst 2023 und im Jahr 2024 erneut sinken, während die Gouverneure im geldpolitischen Ausschuss sie 2023 unverändert und erst 2024 nur leicht sinken sehen. Die Diskrepanz zwischen den Prognosen dieser beiden Gruppen für Ende 2024 liegt bei knapp 150 Basispunkten.

Wie löst sich Diskrepanz bei den Zinsprognosen auf?

In diesem konkreten Fall wird sich die Unstimmigkeit natürlich im Laufe der Zeit auflösen. Stellt sich nur die Frage auf welchem Wege. Der von den Gouverneuren ins Auge gefasste ist lang, aber relativ harmonisch. Auf ihm soll sich die Inflation langsam beruhigen, was nahelegt, dass ein Deflationsschock, beispielsweise aufgrund einer Rezession, ausbleibt. Auf der anderen Seite rechnet der Markt damit, dass die Zentralbank ihre Geldpolitik schnell lockert. Diese Melodie mag sanft klingen, aber wodurch könnte die Inflation so schnell zurückgehen, wenn nicht durch einen heftigen Einbruch des Arbeitsmarktes oder gar eine Rezession? Die Lockerung der Geldpolitik wäre also mit einer beträchtlichen Verschlechterung der Wirtschaftslage verbunden.

So oder so wird sich die Situation klären. Entweder langsam, unter der Last langfristig hoher Zinsen, oder schnell, was ebenso unangenehm wäre, weil dieses Szenario mit einer ausgeprägten Konjunkturschwäche verbunden wäre.

Doch der Gewinn in Verbindung mit der Auflösung dieser Dissonanzen ist groß. Im Dissonanz-Quartett von Mozart folgt auf das dissonante Adagio ein freudiges Allegro – und das macht den Erfolg dieses Werkes aus. Wird sich der Markt mozartlich zeigen können?

Von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE
 

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Fußnote

1Bloomberg